Den Ursprung dieses Brauchs findet man in der Heian-Periode (794-1192): Die Hofadligen begannen in dieser Zeit, sich am Abend damit zu zerstreuen, den Insekten zu lauschen, während sie den Blick über die Wasserlandschaften ihrer Gärten schweifen ließen. Aber noch bevor sich das Anhören der Insekten als ein Zeitvertreib etablieren konnte, waren bereits mehrere Gedichte, etwa in der alten japanischen Gedichtsammlung "Manyou-shuu", den Insekten gewidmet worden.
Das Orchester Insekten wird von verschiedenen Arten gebildet: Unter den "Musikern" sind "Suzu-mushi" (trigonidium haani Saussure), "Matsu-mushi" (xenogryllus marmoratus), "Kantan" (oecanthus indicus Saussure), "Kutsuwa-mushi" (mecopoda nipponensis), "Umaoi" (hexacentrus japonicus japonicus karny) und "Emma-koorogi" (teleogryllus emma). Sie werden in den Liedern besungen, und jeder Japaner kennt sie aus seiner Kindheit. Alle gehören zur Art der Geradflügler (Orthoptera: Grashüpfer und Grillen - ca.240 Arten leben in Japan) und sie erzeugen ihre Musik durch das Reiben mit ihren sägeähnlichen Schenkeln, ähnlich dem Bogen einer Geige.
In der japanischen Sprache findet man einen großen Reichtum an lautsprachlichen Ausdrücken, unter denen auch Wendungen für den Insektengesang zahlreich sind, etwa:
Suzu-mushi ("Glöckchen-Insekt")
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rin-rin, riin-riin
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Matshu-mushi ("Kiefern-Insekt")
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tschin-tschiro-rin, tschitschi-riri
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Kutsuwa-mushi ("Pferdegebiß-Insekt")
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gatscha-gatscha
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Kantan ("Kantan" nach einem chinesischen Stadtnamen)
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Rurururu
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Umaoi ("Pferde-Folger")
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tschon-tschon-suii-chon
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Emma-koorogi ("Totengott-Grille")
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Koro-koro-ririri
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Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Edo-Periode, einer zweihundertjährigen Friedenszeit nach einem Abschnitt heftiger Bürgerkriege, entstand aus dem Brauch des Insektenbelauschens eine richtiggehende "Unterhaltungsindustrie": Die Bürger der Großstädte konnten über zehn Sorten kleiner "Sänger und Sängerinnen" käuflich erwerben. Die Verkaufsstände waren entweder tragbar oder wurden an Festtagen an Auffahrtsstraßen großer Schreine aufgestellt.
Eine Art Industrialisierung der Insektenzucht hatte ihren Beginn in einem Zufall. Ein Samurai namens Kiriyama kaufte vom Grillenverkäufer Chuuzou einige Grillen zum Anhören. Er vergaß aber, die armen Insekten aus ihrer "Verpackung", einem Tongefäß, in einen Käfig zu verlegen. Im nächsten Sommer entdeckte er das Gefäß wieder, öffnete den Deckel und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sich die Insekten vermehrt hatten. Er erzählte diese Geschichte dem Verkäufer, und so kam es, dass der Samurai und der Händler danach gemeinsam die Zucht auch von anderen Sorten auf diese Art und Weise praktizierten.
Nachdem ihre Zucht erfolgreich verlief und die Methode sich weiter verbreitete, wuchs mit der Zeit die Zahl von konkurrierenden Züchtern und Händlern in der Stadt Edo, dem heutigen Tokio, dramatisch an. Um den extrem überhitzten Grillenmarkt zu stabilisieren, begrenzte die Shogunats-Regierung die Zahl zugelassener Händler auf 36. Dieses Verbot hielt sich allerdings nicht länger als ca. vierzig Jahre.
Neben den singenden Grashüpfern beobachteten die Japaner auch Glühwürmchen. Anders als die orchestralen Aufführungen, das meist den Juni und Juli füllen, gehören die gelbgrünen, schwebenden Lichter zur japanischen Sommernacht.
Aber warum lauschten die Japaner dieser "Musik"? Viele Europäer finden es eher seltsam, wenn sie von der Leidenschaft der Japaner für diese Geräusche hören.
Wie der Name des Landes "Nippon" = "Unter der Sonne" bereits sagt, ist das Land tatsächlich sonnenreich. Eine ungebändigte Natur prägt das Inselreich. Pflanzen gedeihen, die Insekten vermehren sich. Mehrere Meeresströmungen treffen sich vor Japans Küsten. Diese sehr lebhafte Natur lässt sich durch Menschen nicht bändigen. Sturzflut, Taifun, Erdbeben und Vulkanausbrüche lassen sich alle nicht von Menschen beherrschen. Auch die Insekten ließen sich nicht leicht bekämpfen - eher gar nicht, bevor chemische Vertilgungsmittel zum Einsatz kamen. Die Menschen, die in Japan lebten, mussten die Natur akzeptieren und ordneten sich in ihr Gefüge ein; sie schufen daraus einen Zeitvertreib und auch Kunst. Natürlich wollten sie eigentlich um ihre Reisfelder herum auch keine Insekten sehen, diese waren jedoch so hartnäckig, dass ihre Existenz dann durch Feste und Sagen verbrämt wurde.
"Mushi-Okuri" heißt ein solches Fest in den japanischen Provinzen. Diese "Abschiedsfeiern für Insekten" fanden früher überall in der japanischen Agrargesellschaft - meist ebenfalls im Juni oder Juli - statt. Die Dorfbewohner trugen Fahnen und Instrumente, erzeugten Geräusche und Rauch. Durch ihre Reisfelder umherwandernd, hofften sie, dass sie dieses Jahr weniger Insektenfraß erleiden müssten. In vielen Gebieten heißt dieses Fest auch "Sanemori-Okuri", genannt nach einem bekannten Kämpfer im Mittelalter, der sehr treu für seinen Herrn kämpfte und schließlich in einem Reisfeld fiel. Viele Bauer glaubten früher, dass er weiterhin Rache nähme, indem er jedes Jahr ganze Armeen hartnäckiger Insekten aus dem Jenseits schicke. [Sato]
* Manyou-shuu: 20-bändige Gedichtsammlung. Fertiggestellt wurde sie erst in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts, doch die Sammlung entstand über mehrere Jahrhunderte (ca. 630-770). Sie besteht aus etwa 4500 Gedichten. Neben den Gedichten vom Hofadel sind hier auch viele Gedichte von unbekannten Bauern und Soldaten (98 Gedichte) gesammelt.
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